Was haben die klassischen Yoga-Texte und ihre philosophischen Konzepte mit unserem heutigen Yoga überhaupt noch gemein? In diesem Artikel zeige ich dir anhand eines bekannten klassischen Textes, wie du deine Yoga Praxis vertiefen kannst.
Damit Yoga seine ganze Wirkung entfalten kann, darf Philosophie und Praxis nicht voneinander getrennt werden.
Die Praxis bereitet unser Denken darauf vor, neue philosophische Ansätze zu verstehen und auch selbst weiter zu entwickeln. Und der Philosophie entspringen immer wieder neue Ansätze für Übungen.
Die Realität heute ist aber eher, dass wir auf der einen Seite Yoga Praktizierende haben, die ganz in den körperlichen Übungen aufgehen, aber von der Philosophie abgekoppelt sind bzw. nur die Häppchen kennen, die ihnen in den Yoga Studios zugeworfen werden. Die wenigsten setzen sich selbständig mit den Konzepten auseinander. Das hat viele verschiedenen Gründe.
Der Hauptgrund ist wahrscheinlich, dass fast alle Yoga Konzepte unserer Kultur so fremd sind, dass wir kein eigenes Wort dafür haben. Daher benutzen wir die Sanskrit Begriffe. Diese bergen aber so komplexe Systeme in einem Wort, dass es Zeit und Mühen braucht, diese zu verstehen. Zudem bedeuten die verschiedenen Begriffe auch noch Unterschiedliches in den verschiedenen Traditionen.
So kann zum Beispiel das Wort Dharma in Zusammenhang mit dem Hinduismus mit Kodex übersetzt werden. Die für jeden individuell gültigen Regeln des Lebens und Zusammenlebens. Das beinhaltet Traditionen und die in den Veden niedergeschriebenen Regeln.
Im Buddhismus dagegen bedeutet Dharma unter anderem die Lehre Buddhas, das von Buddha erkannte Daseinsgesetz. Ohne näher darauf eingehen zu wollen, wird hier schnell klar, dass zum Begriff Dharma ganze Bücher gefüllt werden könnten.
Neben den rein physisch Praktizierenden haben wir auf der anderen Seite des Spektrums vorwiegend akademische Übersetzungen und Kommentare, die für den normalen Yogi inhaltlich nur schwer zu verdauen sind.
Hoffnung gibt hier das Hatha Yoga Project. Praktizierende Yogis und Forscher, oft in Personalunion, erforschen die Geschichte der physischen Yoga Praxis indem sie klassische Texte übersetzen und zum Teil erstmalig in einer europäischen Sprache zugänglich machen. Es bleibt spannend.
Zusammenfassend kann aber erstmal festgestellt werden, dass die Kombination von Philosophie (hier im weiteren Sinne auch als Weltanschauung gemeint) und Praxis einen weiter voranbringt. Wir wissen, wo der Weg hinführt und wie wir dort hinkommen.
Ohne Praxis kann Philosophie schnell langweilig werden und zur Theorie verkümmern.
Patañjalis Yoga Sutra ist bei weitem nicht der einzige klassische Text zum Thema Yoga, aber aus historischen Gründen, die ich in einem früheren Artikel angerissen habe, der im Westen am meistgelesene. Fast jede Yogalehrer Ausbildung beinhaltet das Studium der 195 bzw. 196 Verse.
Die Verse sind sehr kurz und geben eine Essenz wieder. Übersetzungen lassen dem Verfasser daher großen Spielraum. Es gibt zudem unzählige Kommentar zu den Yoga Sutren, ebenfalls mit großer Interpretationsbandbreite.
Am bekanntesten, aber nicht unbedingt inhaltlich am bedeutendsten, sind Patañjalis 8 Stufen oder Glieder auf dem Weg zur Selbsterkenntnis oder Erleuchtung. Diese 8 Glieder, ashtanga auf Sanskrit (ashta = acht, anga = Glied) sind namensgebend aber nicht identisch mit dem Ashtanga Yoga, begründet von K. Pattabhi Jois. (Anmerkung: Patanjalis 8 Glieder schreibe ich klein: ashtangayoga; das Asana System von Pattabhi Jois schreibe ich groß: Ashtanga Yoga)
In Bezug auf unsere Yoga Praxis können wir diese 8 Aspekte berücksichtigen, um unsere Praxis zu vertiefen und ihr Bedeutung zu schenken:
Die Yamas sind wie die 10 Gebote und helfen uns, freundlich und harmonisch mit unseren Mitmenschen und der Umwelt umzugehen. Wir sollen anderen nicht schaden, ehrlich sein, nicht stehlen, treu sein und keinen Neid empfinden. Eigentlich alles, was man von einem Menschen erwarten kann.
Die zweite Kategorie, die Niyamas, helfen uns Gedanken und Körper rein zu halten. Es geht darum, sich nicht von allen Trends und Begehrlichkeiten beeinflussen zu lassen. Körper und Geist lieben das Einfache und Simple.
Als drittes (man beachte nicht als erstes ;-)) kommen die Asanas, unser physisches Yoga. Ziel ist nicht der perfekte Body, der dem derzeitigen Schönheitsideal entspricht, sondern ein gesunder Körper, der stark und gleichzeitig leicht ist und uns auf unserem Weg hilft.
Wir Manifestieren in unserem Körper viele Hürden, die uns auf dem Weg zur Selbsterkenntnis im Weg stehen. Krankheit, Trägheit, Hyperaktivität und vieles mehr beeinflusst unsere Gedanken.
Aber auch Emotionen, Gedanken und Eindrücke manifestieren sich in unserem Körper.
Bei vielen Yogis kommt ein Gefühl von Ärger auf, wenn sie Vorwärtsbeugen üben. Es heißt Ärger sammelt sich in unseren Hamstrings, also den hinteren Oberschenkelmuskeln. Wenn wir es schaffen, in der Yoga Praxis diesen Ärger bewusst loszulassen, dann vermeiden wir, dass er sich in anderer Form einen Weg bahnt, z.B. in Aggressivität oder Krankheit.
Andere empfinden starke Emotionen nach einer Reihe von Rückbeugen, d.h. schmerzhafte, unangenehme Gefühle werden in der Brust abgelagert, wo sie sich wie ein Panzer um das Herz legen. Wenn wir Rückbeugen üben, kann dieser Panzer aufbrechen und viele durchströmt ein Gefühl von Erleichterung. Das kann manchmal auch zeitlich versetzt sein.
Das vierte Glied ist Prānāyama, oft mit Atemtechnik übersetzt. Prāna ist aber mehr als nur unser Atem, es ist die Lebensenergie, die uns und alle anderen Lebewesen durchströmt und Leben erst ermöglicht. Unser Atem hat eine direkte Verbindung mit unseren Gedanken.
Wenn wir unseren Atem kontrollieren lernen, können wir auch lernen die Gedanken zu beruhigen.
Wir können Prānāyama also Atemtechnik entweder vor oder nach unserer Asana Praxis üben, aber auch währenddessen mit Hilfe des Ujjayi Atems.
Lass immer die Bewegung deinem Atem folgen, der Atem hat Vorfahrt. Nach und nach bewegt sich dein Körper im Takt mit deinem Atem. Es bist nicht mehr du, der die Bewegung bewusst ausführt, sondern das Prana übernimmt die Führung. Wir können nun in alle Körperteile hineinatmen und Prāna so verteilen.
Das ist āyāma - die Ausdehnung des Atems.
Bis hierhin folgen die meisten Yogis noch dem Yoga Sutra. Ab Glied Nr. 5 wird es schwierig.
Pratyahara - Das sich-nach-innen Richten unserer Sinne. Wenn wir uns ständig mit äußeren Objekten ablenken, füttern wir unsere Gedanken und lassen sie nicht zur Ruhe kommen. Wenn wir aber die äußere Ablenkung ausblenden, dann kann sich unser Geist mit seiner Quelle beschäftigen, unserer Mitte, unserem Bewusstsein.
In der Yoga Praxis üben wir dies indem wir die Augen auf einen fixen Punkt richten, unser drishti.
Anstatt also nach den Anderen im Raum zu schauen, fixieren wir unsere Augen auf einen vorgegebenen Punkt. Der Gehörsinn wird nach innen gelenkt, indem wir auf unseren Atem hören. Der Ujjayi Atem hilft, da er gut hörbar ist und er gibt uns ein direktes Feedback über die Qualität unserer Praxis.
Das 6. Glied ist Dharana oder Konzentration. Jeder der schon einmal Mediation versucht hat, weiß nur zu gut, wir schnell unser Geist Gedanken heraufbeschwört und wie schnell wir uns darin verlieren können. Wir denken die Gedanken weiter. Bei Dharana geht es darum fokussiert zu bleiben und immer wieder zum Objekt unseres Fokusses zurückzukehren. Es ist sozusagen eine Vorübung zur Meditation, die keinen Fokus mehr hat.
In unserer Yoga Praxis üben wir Konzentration indem wir uns auf die Verbindung von Bewegung und Atmung konzentrieren. Natürlich ist es schwer sich darauf zu konzentrieren, wenn wir im Yoga Studio sind und den Anleitungen unseres Yoga Lehrers folgen wollen.
Hilfreich ist hier eine feste Asana-Folge, wie sie im Ashtanga Yoga praktiziert wird. Die Reihenfolge der Asanas geht irgendwann in Fleisch und Blut über und der Geist kann sich auf Bewegung und Atmung konzentrieren.
Die Praxis wird zu einer bewegten Meditation.
Eine Praxis zu Hause mit ein paar festgelegten Übungen kann dieselbe Wirkung haben.
Das 7. Glied ist Dhyana - Meditation. Hier ist mit Meditation das ungestörte Ruhen im Sein gemeint. Im Gegensatz zu Dharana (6. Glied) gibt es hier keine Anstrengung mehr irgendetwas auszublenden.
Eine Ahnung davon können wir in unserer Praxis erfahren, wenn wir das Gefühl bekommen, dass wir die Asanas nicht mehr ausführen, sondern ausgeführt werden. Wir erkennen, dass wir den Körper beobachten können und daher nicht der Körper sind.
Wir sind eine beobachtende Einheit.
Das letzte Glied ist Samadhi.
Der Geist ist wie ein klarer Juwel, der alles ungefärbt reflektiert und keine individuelle Variante der Realität erzeugt. Um dies zu erreichen, müssen wir uns von allen Konditionierungen lösen.
„Wenn alle Vorprägung gereinigt, die eigene Natur klar ist, dann leuchtet nur das betrachtete Objekt selbst. Dies ist Nirvitarka-Samapatti.“
Sutra 1.43
Wenn es nicht mal mehr ein Objekt benötigt, das unverändert reflektiert wird, sondern vielmehr unsere Essenz, unser reines Bewusstsein, zu Tage tritt, dann hat der Yogi sein Ziel erreicht. In diesem Zustand sind alle Bewegungen des Geistes zur Ruhe gekommen und das darunter liegende Bewusstsein erscheint klar: Das göttliche Selbst.
Mir liegt am Herzen nochmals zu erwähnen, dass im Yoga Sutra noch viele weitere wertvolle Konzepte enthalten sind, die oft vernachlässigt werden. Zudem gibt es noch viele weitere klassische Yoga Texte, die Konzepte und Weltanschauungen enthalten, die wertvoll und Sinn stiftend auch für unsere heutige Zeit sein können.
Ein paar davon möchte ich in folgenden Beiträgen gerne vorstellen.
Lass mich gerne wissen, welcher Text dich interessiert oder mit welchem du bisher Schwierigkeiten hattest.
Quelle:
Gregor Maehle, Ashtanga Yoga: Practice and Philosophy. 2007
Was denkst du?